Grafische Darstellung - Zwei Hände reichen sich, dazwischen ein Blitz

Aufbruchstimmung

Fast vierzig Jahre war das Berliner Stromnetz in einen Ost- und Westteil getrennt. Mit dem Fall der Mauer begann auch die Wiedervereinigung des Stromnetzes. Ulrich Strasse und Uwe Reich blicken auf die turbulenten Jahre zurück.

Das Stromnetz: 1952-1998



STROMINSEL
Auf Befehl der Sowjets wird Westberlin am 5. März 1952 vom Berliner Stromnetz abgetrennt.

GETEILTES BERLIN An der Grenze des sowjetischen Sektors zu Westberlin werden am 13. August 1961 erste Ab­sperrungen errichtet. Beginn des Mauerbaus.

JFK IN BERLIN Im Juni 1963 besucht US-Präsident John F. Kennedy Westberlin. In seiner Rede fällt der berühmt gewordene Satz „Ich bin ein Berliner!“.

MAUERFALL Am 9. November 1989 fällt die Mauer.

WIEDERVEREINIGUNG Am 3. Oktober 1990 findet die politische Wiedervereinigung statt.

NOTSTROM Am 1. Dezember 1992 wird eine Notstromverbindung von Ost- nach Westberlin geschaltet.

ENDLICH ... Am 7. Dezember 1994 werden beide Netze in den zentralen Bezirken zusammengeführt.

... VEREINT Erst am 7. Dezember 1998 ist das Berliner Stromnetz wieder komplett vereint.


An den Tag nach dem Fall der Mauer erinnert sich Ulrich Strasse, Leiter der Region Mitte des Mittel- und Niederspannungsnetzes Berlin der VE Netzservice GmbH, noch so, als sei es gestern gewesen. An jenem Freitag wurde der damals 34-jährige Chef der 42 Ostberliner Umspannwerke gefragt, ob denn die Mitarbeiter auch zur Arbeit erschienen sind. „In meinem Bereich arbeiteten damals über 100 Mitarbeiter“, erzählt Strasse. „Ohne es zu wissen, antwortete ich spontan: ‚Im Bereich Umspannwerke fehlt keiner.‘“ Die Realität sah natürlich anders aus. Am 9. November 1989 wurde Geschichte geschrieben. Nach 28 Jahren fiel die Mauer, die Berlin in Ost und West teilte. Ein Großteil von Strasses Mitarbeitern blieb an diesem Freitag der Arbeit fern und feierte stattdessen die wiedererlangte Freiheit. Ganz nach Plan fand am Abend des 10. November 1989 die Jahresfeier der Ostberliner Stromversorgung im Tierpark Berlin statt. „Fast die Hälfte der Plätze waren unbesetzt“, erinnert sich Strasse. „Es war uns natürlich klar, warum.“

Der Fall der Mauer markierte nicht nur den Zusammenbruch der DDR, sondern auch das Ende Westberlins als sogenannte Strominsel. Am 5. März 1952 veranlassten die sowjetischen Truppen die Abtrennung der Stromversorgung für den Westteil der Stadt. Die offizielle Begründung: Die in den Westen führenden Stromleitungen verursachen Störungen im DDR-Netz. Der Berliner Stromversorger Bewag sah sich gezwungen, für Westberlin eigene Kapazitäten aufzubauen. Westberlin war seither eine Strominsel – abgekoppelt von der Stromversorgung in Westdeutschland und der DDR. Selbst der Strom für U-Bahnen, die den Ost- und Westteil durchquerten, lief säuberlich voneinander getrennt.

VEREINT UND DOCH GETRENNT

Die politische Wiedervereinigung feierten die Deutschen am 3. Oktober 1990. Bis auch die Berliner Stromnetze wieder eins wurden, vergingen aber noch zwei Jahre. Im Dezember 1992 wurde zunächst eine Notstromverbindung aus dem Ostteil der Stadt geschaltet. Die zwei Kilometer lange Leitung sollte den gestiegenen Strombedarf im Westen decken. Bei Bedarf konnte der Osten nun in das Westberliner Netz Reserveleistung einspeisen. Knapp zwei Wochen später war das auch prompt der Fall. Im Heizkraftwerk Reuter West fiel ein 300-Megawatt-Block aus. Das Inselnetz der Bewag hatte einen vorübergehenden Leistungsabfall. Aus dem Osten flossen erstmals 220 Megawatt Reservestrom in den Westen Berlins.

ZEIT IST FLEXIBEL

Reibungslos verlief die Versorgung Westberlins zunächst nicht. Heizungen und Videorecorder schalteten sich nicht mehr pünktlich ein. Kaufhaustüren und Bankschließfächer öffneten sich nicht zum geplanten Zeitpunkt. Das Thema beherrschte tagelang die Schlagzeilen der Tageszeitungen und ließ Experten rätseln: War Oststrom nicht gleich Weststrom? Der Grund für das Phänomen lag in den Frequenzschwankungen im ostdeutschen Stromnetz. Die Frequenz sank, wenn weniger Strom produziert wurde als erforderlich. Uhren tickten langsamer. Wenn zu viel Strom produziert wurde, erhöhte sich die Frequenz. Die Uhren liefen wieder schneller. Elektrische Zeitschaltuhren mussten deshalb von Zeit zu Zeit manuell nachgestellt werden. „Mal abgesehen von den falsch tickenden Uhren – mit dieser Notstromverbindung wurde Geschichte geschrieben. Sie war der Beginn der Zusammenführung der Stromnetze beider Stadtteile“, sagt Strasse. Er schaut gern auf diese Tage des Aufbruchs und auf die ersten Begegnungen mit den Westberliner Kollegen zurück. „Es herrschte Aufbruchsstimmung, ja regelrecht Euphorie. Man konnte mitgestalten, sich aktiv einbringen, war Teil einer einmaligen historischen Etappe. Es war eine angenehme und aufgeschlossene Atmosphäre, und wir merkten schnell, dass wir uns mit unserer Technik, unserem Wissen und unseren Erfahrungen nicht hinter den Westkollegen verstecken brauchten.“

 

AUF KNOPFDRUCK VEREINT

Zwei Jahre blieb die Notstromverbindung in Betrieb, verband Berlin jedoch nicht mit dem regionalen Netzwerk – und auch das Stromnetz war noch nicht endgültig wieder vereint. Während dieser Zeit baute man am ersten überregionalen Verbundanschluss: 170 Kilometer von Helmstedt bei Hannover bis nach Berlin. Am 7. Dezember 1994 ging die 380-Kilovolt-Verbundleitung ans Netz. Damit hatte Berlin einen leistungsfähigen überregionalen Verbundanschluss und war nach 42 Jahren wieder Bestandteil des westeuropäischen Stromnetzes.

Der heutige Leiter des Berliner Hochspannungsnetzes der VE Netzservice GmbH, Uwe Reich, damals Leiter der Lastverteilung der Bewag in Westberlin, kann sich noch gut erinnern: „Die Inbetriebnahme wurde damals live im Fernsehen übertragen. Und auf Wunsch Eberhard Diepgens, dem damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, musste der rote Knopf für die Inbetriebnahme des Netzes gegen einen schwarzen ausgetauscht werden. Dann der Knopfdruck und Westberlin war keine Strominsel mehr und nach Jahrzehnten endlich wieder an ein Verbundnetz angeschlossen. Unser Ziel war seit dem Fall der Berliner Mauer die Zusammenführung der beiden Stromnetze. Und an diesem Tag wurde ein bedeutender Meilenstein gesetzt.“ Allerdings wurde der Strom vorläufig nur bis zum Umspannwerk Mitte in Berlin-Tiergarten transportiert – noch ist Berlin eine Stadt mit zwei relativ selbstständigen Stromnetzen.

Mit Hochdruck arbeitete die Bewag daran, aus zwei Stromnetzen eins zu machen. Im Frühjahr 1995 begann der Bau der Diagonale von Westen nach Osten. Neue Umspannwerke entstanden. Eine rund 12 Kilometer lange unterirdische Kabeltrasse verband diese mit dem Umspannwerk Mitte. Der erste Teilabschnitt zwischen Mitte und Friedrichshain ging am 7. Dezember 1998 in Betrieb. Jetzt waren die seit 1952 getrennten Stromnetze wirklich wieder vereint.

Reich hatte seinerzeit eine zentrale Rolle inne. Als damaliger Leiter der Lastverteilung war er dafür zuständig, die Warten von Ost- und Westberlin zusammenzuführen. Für ihn war diese Zeit ungeheuer spannend, und sie prägte seine künftige Laufbahn. „Ost- und Westkollegen haben prima zusammengearbeitet. Bei der Umsetzung gab es zwar hin und wieder unterschiedliche Sichtweisen auf die Dinge, aber wir haben uns gut ergänzt und viel voneinander gelernt. Zwar war die Technik nicht auf dem gleichen Stand, fachlich waren die Kollegen aber alle top.“

MAN SPRICHT SCHALTKOMMANDOSPRACHE

Auch Strasse erinnert sich gern an diese Zeit. „Natürlich verlief nicht alles reibungslos. Wir sind alle nur Menschen. Mit Beginn der gemeinsamen Schaltberechtigtenausbildung um 1996 war die Schaltkommandosprache ständiger Begleiter, auch heute noch.“ Die Schaltkommandosprache weckt auch Erinnerungen bei Reich: „Während wir schon viel fernsteuerten, wurde im Osten noch viel direkt vor Ort geschaltet. Dafür gab es die Schaltkommandosprache. Die mussten wir ‚Westler‘ erst mal lernen.“ Und das klang dann zum Beispiel so: „Im Umspannwerk Mitte, 380-Kilovolt-Leitung Umspannwerk Friedrichshain, Leistungsschalter einschalten.“

Im November 2000 wurde die komplett durchgeschaltete Diagonale durch Berlin geschlossen – fünf Jahre nach Baubeginn. Die Bewag war nun an zwei Punkten voll in das deutsche und europäische Stromnetz integriert. Strasse, der Ostberliner, arbeitet heute im Westteil Berlins und verantwortet als Chef von rund 100 Mitarbeitern die Mittel- und Niederspannung in der Region Mitte. „Es ist einmalig, was hier in Berlin passiert ist, was wir alle geschaffen haben. Die Stromversorgung ist so sicher und zuverlässig und sucht ihresgleichen in der Welt. Und die Uhren ticken ja auch längst wieder richtig.“

TEXT Rachel Wolpert
ILLUSTRATION Pietari Posti

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