Klingenberg

Gemüse aus dem Kraftwerk

Berlin in den berühmten Goldenen Zwanzigern - die Wirtschaft zieht an, der Energiebedarf steigt. Ein neues Großkraftwerk wird gebaut. Eine Innovation dabei: Mit der Abwärme aus der Stromproduktion werden riesige Gewächshäuser gespeist, die mit Obst und Gemüse den Hunger der wachsenden Bevölkerung stillen sollen.

Rückblende ins Jahr 1925: Die Krise in Deutschland ist überwunden, Kunst, Kultur und Wissenschaft boomen, mit der Wirtschaft geht es bergauf. Der Bedarf an Energie steigt, da sich immer mehr Industrie in Berlin und Umgebung ansiedelt. Und auch in der Stadt selbst wächst der Wohlstand und weckt den Bedarf an Elektrizität. Ein eigenes Kraftwerk soll her.

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Blick auf die Gewächshäuser neben dem Kraftwerk Klingenberg 1929, Quelle: Vattenfall

Der renommierte Kraftwerksbauer Georg Klingenberg übernimmt die technische Konzeption, sein Bruder Waltar ist der Architekt. Bereits ein Jahr später, im Dezember 1926, startet in der Rummelsburger Bucht der Erstbetrieb des Kraftwerks Klingenberg, das zur Inbetriebnahme den Namen seiner Erbauer erhält.

Gewächshäuser mit Abwärme – die Kraftwerksgärtnerei

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Bau der Gewächshäuser 1928, Quelle: Vattenfall

Eine Innovation stellt die Abwärme-Nutzung des neuen Kraftwerks dar. Statt den Dampf, der bei der Stromerzeugung entsteht, ungenutzt in die Luft zu blasen, wird er zur Fernwärmeversorgung genutzt. Davon profitieren nicht nur die Anwohner der neu entstehenden Wohnviertel, sondern auch eine ausgedehnte Gewächshausanlage, die neben dem Kraftwerk errichtet wird.

Auf 10.000 Quadratmetern bebauter Grundfläche entsteht 1928 eine Treibhausanlage für Gurken, Tomaten und Blumen. Die Kraftwerksgärtnerei besteht aus einem Verwaltungsgebäude, zwölf Gurkenhäusern, sieben Tomatenhäusern und einem Blumenhaus. Zusätzlich gibt es noch ein Anzuchthaus für Gurken und Tomaten. Die Gewächshäuser sind jeweils 80 Meter lang und auf dem aller neusten Stand der Technik. Sie verfügen über eine oberirdische und unterirdische Bewässerungsanlage und haben neben der Fernwärme-Raumheizung auch eine Bodenheizung.

Im Anzuchthaus werden die Keim- und Setzlinge in beheizten Beeten gezogen und elektrisch beleuchtet. Zum Befördern der Früchte und Erdmassen dienen speziell für diesen Zweck entwickelte wendige Elektrowagen. Bis zu 28 Mitarbeiter – vom Lehrling bis zum Obergärtner – sind in der Kraftwerksgärtnerei tätig. Sie haben eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden und verdienen je nach Gehaltsgruppe zwischen 115 und 230 Reichsmark im Monat. Zum Vergleich: Der monatliche Durchschnittslohn liegt damals bei 128 Reichsmark.

Vielfalt mit Verlust

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Tomaten und Kohlrabi, 1929, Quelle: Vattenfall

In den Akten aus jener Zeit ist genau aufgelistet, welche Gemüsesorten in den Kraftwerksgewächshäusern angebaut wurden, wie die Erträge ausfielen, welche Kosten entstanden und welche Erlöse mit dem Verkauf der Gärtnereiprodukte erzielt wurden. Es gab zwei Ernten pro Jahr. Die erste Ernte reichte von Februar bis zum Ausreifen der Gurken und Tomaten, die zweite von November bis Januar.

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Erste Gurken der Kraftwerksgärtnerei Klingenberg, 1929

Zusätzlich wurden auch Kohlrabi, Bohnen, Auberginen, Champignons, Rettich, Melonen, Chicorée, Pfeffer, Dill, Schwarzwurzel, Erdbeeren, Weintrauben, Kirschen und Blumen angebaut. So prächtig sich jedoch die Erntelisten lesen, so wiesen doch die Bilanzen des Gärtnereibetriebes Jahr für Jahr ein Minus auf. Gewinne konnten offensichtlich mit den Gurken und Co niemals erzielt werden.

Neben den Rückschlägen durch den Zweiten Weltkrieg trug wohl die fehlende Wirtschaftlichkeit des Gärtnereibetriebes dazu bei, dass die Gemüsezucht am Kraftwerk Klingenberg 1950 eingestellt wurde. Lediglich der Blumenanbau ging weiter.

Volkseigene Blumen

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Kraftwerksgärtnerei mit Stil – verzierte Türgriffe, 1929 Quelle: Vattenfall

Zu DDR-Zeiten gehörte die Gewächshausanlage nicht mehr direkt zum Energieunternehmen, sondern wurde zum eigenständigen Volkseigenen Betrieb (VEB Gartenbau). Um die technische Instandhaltung der Gewächshäuser kümmerten sich jedoch weiter die Techniker des benachbarten Kraftwerks.

Bis in die siebziger Jahre hinein waren vier der Gewächshäuser von Klingenberg noch in Betrieb. Dr. Burkhardt Ackermann, von 1979 bis 2004 Leiter des Kraftwerks, kam 1962 als Lehrling zum Elektromaschinenschlosser nach Klingenberg: „Ich kann mich noch gut an die Gewächshausanlage erinnern. Da habe ich selber als Schlosser oft an den Anlagen rumgeschraubt.“

Statt Obst und Gemüse wurden zu jener Zeit nur noch Gerbera angebaut, erinnert sich Burkhardt Ackermann. „Schnittblumen waren in der DDR sehr selten und Gerbera galten als etwas ganz Besonderes. Wenn wir manchmal welche mit nach Hause nehmen durften, war das jedes Mal ein Ereignis“.

Ende der Gewächshaus-Ära

1974/75 wurden im Kraftwerk Klingenberg die Dampfkessel abgerissen und die Fernwärmeversorgung von Dampf auf Heißwasser umgestellt. Im Zuge dessen wurden auch die dampfgespeisten Fernwärmeleitungen zu beiden Seiten der Köpenicker Straße, an denen auch die Gewächshäuser angeschlossen waren, abgebaut.

Die Gewächshausanlage wurde ebenfalls abgerissen, da sie mittlerweile in die Jahre gekommen war und ihre Sanierung und technische Umrüstung zu aufwändig gewesen wäre. Außerdem war der Gewächshausbetrieb auch unter VEB-Regie nach wie vor unrentabel.

Das Gemüse kommt zurück

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Die ECF Farm, Foto: ECF Farmsystems Berlin

Viele Jahrzehnte nachdem in Klingenberg die letzte Kiste Gurken geerntet und die letzte Gerbera gepflückt wurden, könnten nun an diesem Standort wieder Abwärme-beheizte Gewächshäuser entstehen. Und diesmal könnte die Nahrungsvielfalt noch größer werden. Ein Konzept dafür gibt es schon. Es ist angedacht, auf dem Gelände in Klingenberg eine Aquaponik-Anlage zu errichten.

Das ist die clevere Verknüpfung von Gemüseanbau in einer Nährstofflösung (Hydroponik) und Fischzucht (Aquakultur). Fische und Pflanzen bilden dabei ein geschlossenes ökologisches System. Die Ausscheidungen der in einem Wasserkreislaufsystem aufgezogenen Fische werden gefiltert und als natürlicher Dünger zu den Pflanzen geleitet, die im Gewächshaus ganz ohne Erde auskommen.

Laut Nicolas Leschke, Geschäftsführer der Aquaponik-Firma ECF Farm, senkt die Abwärme-Nutzung die Betriebskosten um bis zu zehn Prozent. Und dem Artenreichtum beim Gemüse sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Neben Tomaten, Gurken, Zucchini, Salat und Kräutern gedeihen in der Nährstofflösung auch Auberginen oder Melonen.

Insgesamt 400 Sorten, so erklärt Nicolas Leschke, können auf diese Weise gezüchtet werden. Sein Aquaponik-Konzept ist international erfolgreich. Die Chancen, dass es mit der Gemüsezucht in Klingenberg bald wieder los geht und dass es diesmal auch wirtschaftlich besser klappt als in früheren Jahren, stehen gut.


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