Eine gerechte und faire Energiewende – oder gar keine Wende?

Bei der Umstellung Europas auf fossilfreie Energie stehen Gerechtigkeit und Fairness im Mittelpunkt. Proteste gegen die Klimapolitik, eine wachsende Anzahl Politiker, die sich gegen Klimaschutz-Maßnahmen aussprechen: Es zeichnet sich ab, dass das Pendel beginnt, in die andere Richtung zu schwingen. Dahinter steht, dass die Maßnahmen als unfair und ungerecht empfunden werden. 

Melbourne Global climate strike on 20 September, 2019. Photo: John Englart CC BY-SA 2.0 DEED

Landwirte, die ihre Unzufriedenheit mit den EU-Umweltvorschriften zum Ausdruck bringen, argumentieren, dass diese Vorschriften sie unverhältnismäßig stark belasten. Ein weiteres Beispiel waren die Proteste der "Gelbwesten" vor einigen Jahren in Frankreich. Damals hieß es seitens der Demonstrierenden, dass der Entwurf einer Kraftstoffsteuer in ungerechter Weise vor allem die unteren und mittleren Klassen träfe. 

Angesichts der Proteste wurde der Plan, eine solche Steuer einzuführen, schließlich aufgegeben. Auch die EU überdenkt angesichts der anhaltenden Proteste der Landwirtschaft betreibenden Personen derzeit ihre Klimaschutzvorschriften. 

Ist eine Wende schlicht nicht möglich, wenn sie nicht gerecht und fair gestaltet wird? Das ist die Meinung vieler, angefangen beim „Vater“ des Green Deal der EU, Frans Timmermans, der sagte: „Es wird eine gerechte Wende geben oder ganz einfach gar keine“.

Darren McCauley, Professor für Umwelt und soziale Gerechtigkeit an der Newcastle Law School

Darren McCauley ist Professor für Umwelt und soziale Gerechtigkeit an der Newcastle Law School. Seiner Meinung nach gibt es im europäischen Kontext in der Frage der Energiewende mehrere Gerechtigkeits- und Fairness-Aspekte.

Zu den wichtigsten Erwägungen gehört es, erschwingliche Energiepreise sicherzustellen, sich anzuschauen, an welchen Orten Energie erzeugt und verbraucht wird, die Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen, einschließlich marginalisierter Gruppen, die Rechte der Beschäftigten zu berücksichtigen und Möglichkeiten für die Bevölkerung auszuloten, sich an der Energieinfrastruktur zu beteiligen.

Er führt Schottland und insbesondere die Orkney-Inseln als Beispiel an: Dort wird mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt als benötigt. Und doch ist Energie dort teurer als in städtischen Gebieten auf dem Festland, in denen oft keine Erzeugung stattfindet. Noch dazu sind die Menschen in ländlichen Gebieten, in denen der Strom erzeugt wird, zusätzlich zu den höheren Strompreisen oft auf sehr teures und CO2-intensives Öl zum Heizen angewiesen.

Laut McCauley müsste den Menschen vermittelt werden, was es heißt, fossile Brennstoffe zu ersetzen, und sie müssten in Bezug auf die dafür nötigen Prozesse mitgenommen werden. Sie müssten verstehen, warum Dinge auf eine bestimmte Art und Weise geschehen, warum sie überhaupt umgesetzt werden, warum manches an bestimmten Stellen stattfindet, und wie dies nicht nur ihnen selbst zugutekommt, sondern auch anderen.

Instrument der politischen Kampagne

„Verknüpfen wir dies alles zu einem Gesamtbild, stehen die Zeichen auf Erfolg. Anderenfalls kämpfen wir auf verlorenem Posten. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass die Entscheidung für die Dekarbonisierung nicht nur die richtige, sondern auch die gerechtere und bessere Entscheidung für sie ist“, sagt McCauley. „Wenn es nicht gelingt, gesamtgesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen, die aus einem Gefühl der Fairness erwächst, dann wird, offen gesagt, keine noch so gute technische Lösung zur Energiewende führen.“

Stattdessen erleben wir Proteste und in der Politik tätige Personen, die den Widerstand gegen die Energiewende immer erfolgreicher zu ihrem Wahlkampfthema machen. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni mit einem Anstieg der Unterstützung für Parteien gerechnet wird, die sich gegen Maßnahmen zur Förderung der Energiewende aussprechen. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Maßnahmen unfair und ungerecht seien, und dieses Muster ist auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu beobachten.

„Eine Wende ist absolut nicht möglich, wenn sie nicht gerecht und fair erfolgt“, sagt McCauley und fügt hinzu, dass dies zwar für Teile der Welt wie Westeuropa und Nordamerika zutrifft, dieser Grundsatz jedoch zunehmend in Frage gestellt wird, beispielsweise durch den Aufstieg autoritärer Regime oder Einparteienstaaten wie China.

Annika Ramsköld, Head of Corporate Sustainability von Vattenfall

Annika Ramsköld, Head of Sustainability bei Vattenfall stimmt zu. „Wenn wir diese Wende nicht gerecht gestalten, werden wir immer wieder auf Hindernisse stoßen. Wir wissen, dass sie dringend notwendig ist, und deshalb müssen wir von Anfang an für Gerechtigkeit sorgen, indem wir alle Beteiligten einbeziehen. Die Energiewende betrifft alle, und wenn sie nicht gerecht erfolgt, wird sie schlicht gar nicht stattfinden“, sagt Ramsköld.

Für sie ist eine gerechte Wende ein klarer Business Case für ein Unternehmen, das sich die Fossilfreiheit zum Ziel gesetzt hat. Für Vattenfall basiert eine gerechte Wende auf einem sozialen Dialog mit allen Beteiligten. So wird versucht, negative Auswirkungen zu minimieren, es schafft Vorteile für die Betroffenen und stellt Ökosysteme wieder her beziehungsweise vermeidet deren Zerstörung. Kosten und Nutzen müssen in der gesamten Wertschöpfungskette gerecht verteilt sein.

Dialog ist der Schlüssel

Der Dialog ist das wichtigste Instrument, um die Bedürfnisse der Betroffenen zu verstehen, mögliche negative Auswirkungen zu antizipieren und abzumildern und einen gerechten Ausgleich für die Betroffenen zu erreichen. Der Dialog trägt auch dazu bei, positive Auswirkungen zu erkennen und die besten Strategien für den Weg dorthin zu finden. 

Ein anschauliches Beispiel für einen konstruktiven Dialog mit den Rentierzüchtern der Sámis – einem indigenen Volk, das häufig vom Bau neuer Energieinfrastrukturen in Nordschweden betroffen ist – ergab sich, als zunächst eine geradlinige Stromleitung von Punkt A nach Punkt B als optimale Route betrachtet wurde. 

In Gesprächen mit den lokalen Communitys und Rentierzüchtern stellte sich heraus, dass es für sie weniger einschränkend wäre, wenn die Leitung etwas länger und weiter geführt würde. Dies würde diesen kleinen Teil der Elektrifizierung gerechter machen.

Weitere Beispiele für eine gerechtere und inklusivere Wende sind Gemeinschaftsfonds, die beim Bau neuer Windparks zur Unterstützung lokaler Communitys eingerichtet wurden, lokale Miteigentümerschaften und Initiativen zur Berücksichtigung lokaler Zulieferer und Beschäftigter beim Bau neuer Projekte und anschließend für die Instandhaltung der Anlagen. Es gibt kein Patentrezept, aber auch hier ist ein Dialog unerlässlich.

Ein wichtiger Bestandteil einer gerechten und fairen Energiewende ist die Frage, was mit Beschäftigten geschieht, wenn auf fossilen Brennstoffen basierende Infrastruktur geschlossen wird. Der Begriff „Just Transition“ wurde erstmals in den 1980er-Jahren von den Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten geprägt, um Ersatz für Arbeitsplätze zu fordern, die nach der Abkehr von fossilen Brennstoffen wegfielen.

Laut Annika Ramsköld war der Dialog mit den Gewerkschaften ausschlaggebend, um Kohlekraftwerke in Ländern wie den Niederlanden und Deutschland erfolgreich schließen zu können. Wichtige Instrumente waren individuelle Pläne für die Beschäftigten sowie Umschulung und Fortbildung mit Blick auf neue Arbeitsstellen bei Vattenfall oder manchmal auch bei externen Arbeitgebern. „Die Energiewende wird sich nicht unbemerkt vollziehen. Viele werden davon betroffen sein, und der Schwerpunkt muss darauf liegen, negative Auswirkungen zu minimieren und neue Möglichkeiten zu schaffen. Alle, die davon betroffen sind, müssen in irgendeiner Form Ausgleich erfahren“, sagt Ramsköld. 

Lesen Sie den Artikel in unserem Jahres- und Nachhaltigkeitsbericht 2023

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