Unterm Rotor wächst das Riff
Der Ausbau der Windenergie ist für die EU ein entscheidender Baustein für das Erreichen der Klimaziele. Im Jahr 2050 soll die Hälfte des Stroms in der EU aus Windenergie erzeugt werden, an Land und auf hoher See. Vattenfall und BASF errichten derzeit in den Niederlanden den bis dato größten Meereswindpark weltweit, Hollandse Kust Zuid, mit einer Kapazität von 1.500 Megawatt. Dabei kommt modernste Technik zum Einsatz, um den Einfluss auf die Umwelt während des Baus eines solchen Meereswindkraftwerks möglichst gering zu halten. Welche Maßnahmen hier ergriffen werden, lesen Sie im folgenden Beitrag, der am 17.1.2023 in der F.A.Z. erschienen ist.
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Die Niederlande bauen den größten Offshore-Windpark der Welt. Hunderttausenden wird er sauberen Strom liefern. Und dabei das marine Ökosystem verändern. Wissenschaftler und Betreiber versuchen technisch einiges, damit es für Schweinswal, Kabeljau und Auster gut ausgeht.
In der Nordsee tut sich eine Baustelle auf, die so groß ist, dass der Horizont sie einfach verschluckt. Schaute man durch ein Fernglas auf die Schemen der am weitesten entfernten Strukturen, man sähe sie hinter der Erdkrümmung zusammenschrumpfen. Wenn dieses Areal seinen Status als Baustelle ablegt, aller Voraussicht nach in diesem Jahr, wird "Hollandse Kust Zuid" die Riege der größten Offshore-Windparks der Welt anführen. 140 Turbinen der 11-Megawatt-Klasse stellen sich dann in den Nordseewind. Einen Park, der 1,5 Gigawatt Nennleistung aufs Papier bringt, hat es bisher nicht gegeben.
Der logistische und technische Aufwand ist riesig. Die mit Kränen bestückten Installationsschiffe, die sich zwischen Turbinen und Konverterplattformen auf Stahlstelzen aus dem Wasser der niederländischen Nordsee drücken, sind eine Klasse für sich. Alles hier verdient das Attribut: gigantisch. Für Haushalte und Industrie, die bald günstigen grünen Strom vom Meer beziehen können, zudem aus dem ersten Offshore-Windpark, der keinen Cent an Subventionen für den produzierten Strom einstreicht, ist dieser Gigantismus ein Gewinn. Aber wie fällt das Urteil für eine andere, mitunter ohnehin gebeutelte Gruppe aus? Wie verkraften es Meeresbewohner, wenn ihr Lebensraum erst zur Baustelle und später zum maritimen Industriepark wird, weil neue technische Strukturen einziehen?
Als Betreiber Vattenfall und die BASF als Großinvestor vergangenes Jahr Journalisten durch die 225 Quadratkilometer von Hollandse Kust Zuid fahren, sind die Arbeiten an den Fundamenten bereits abgeschlossen. Alle 140 der gelben Stümpfe stehen, wo sie sollen, auch wenn einigen noch Turm, Gondeln und Rotorblätter fehlen. Für Sytske van den Akker bedeutet das: Der heikelste Part ihrer Arbeit ist geschafft. Die Meeresbiologin arbeitet in Vattenfalls hauseigener Umweltberatung und ist dafür zuständig, die umweltrechtlichen Auflagen umzusetzen. Eine große Rolle spielt dabei, Meeressäuger vor dem Lärm der Rammarbeiten zu schützen. Offshore-Turbinen können sich auf unterschiedliche Fundamente stützen, die meistens aus einem, drei oder vier Stahlträgern bestehen - Monopile, Tripod oder Jacket. Nur unter reichlich Krach finden sie zu festem Stand.
Technik kann Meeressäuger vor Lärm schützen
Im niederländischen Windpark hat man es mit bis zu 700 Tonnen je Monopile zu tun. Ein Hydraulikhammer hat sie mit gezielten Schlägen tief in den Meeresboden gerammt. Der Schalldruck, der dabei unter Wasser entsteht, ist ein Problem für Seehunde und Robben, für Fische, vor allem für die scheuen Schweinswale, die ihr sensibles Gehör brauchen, um sich zu orientieren und zu jagen. Der Bestand der geschützten Tiere hat sich in der Nordsee gerade erst zaghaft erholt. Der Boom der Offshore-Windkraft, der sich in Europa und weltweit ankündigt, soll das nicht gefährden, auch wenn das größte Risiko für die Tiere bis heute von den Stellnetzen der Fischerei ausgeht.
Meeresbiologin van den Akker hat aber Technik zur Hand, um die Tiere zu schützen. "Wir haben mit Blasenschleiern gearbeitet", sagt sie, "das reduziert den Lärm der Rammarbeiten massiv." Blasenschleier zu setzen ist eine inzwischen gängige Methode, die auch in den Windparks der ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands angewendet wird. Auf dem niederländischen Meeresboden wurden dazu perforierte Schläuche in zwei Reihen um die Monopiles gelegt. Das Ganze ist ein Druckluftsystem, Kompressoren an Bord des Schiffs pumpen ein Luft-Wasser-Gemisch hinein, sodass rund um die Baustelle kreisförmig zwei dichte Blasenschleier aufsteigen. Sie dämpfen den Schalldruckpegel im Mittel um 18 Dezibel. Die Schutzwirkung lässt sich noch erhöhen, wenn man die Blasenschleier mit anderen Systemen kombiniert, etwa einem Rohr-in-Rohr-System. Ein Stahlrohr umschließt dabei das Fundament, dazwischen liegen Luft und ein kleinerer Blasenschleier. Etwas weniger Schutz bietet ein Hydro-Sound-Damper, ein netzartiger Schwimmkörper, der bestimmte Frequenzen absorbieren kann.
In Deutschland schreibt das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) vor, was Konstrukteure und Betreiber der Offshore-Parks zum Schutz der marinen Ökosysteme leisten müssen. Sonst genehmigt die Behörde die Parks nicht. Einen Grenzwert für die Lärmbelastung während der Bauphase, genau wie für den Betrieb, gibt es seit 2008, ein Jahr bevor mit Alpha Ventus der erste deutsche Offshore-Windpark seinen Betrieb aufnahm. Das BSH schreibt vor, dass in einem Abstand von 750 Metern um die Rammarbeiten nicht mehr als 160 Dezibel anfallen dürfen. In Hollandse Kust Zuid sei man komfortabel darunter geblieben, versichert van den Akker. Während der Arbeiten zu messen, ebenso in festen Zeitfenstern, wenn der Betrieb erstmal läuft, ist im Hoheitsbereich des BSH Pflicht. Zudem betreibt die Behörde mit "Marine Ears" ein eigenes Schallüberwachungssystem.
Auf den schützenden Schirm der Blasenschleier allein darf sich aber niemand mehr verlassen. Das BSH schreibt vor, dass die Tiere aktiv aus der Baustelle ohne Bauzäune zu vertreiben sind. Biologen spüren mit Hydrophonen auf, wo sich etwa die kleinen Wale aufhalten. Ihre Klicklaute sind über die Unterwassermikrofone zu hören. Anschließend kommen akustische Signalgeber zum Einsatz. Je nach Hersteller haben sie mal das Format eines Bluetooth-Lautsprechers, mal das eines Basketballs, folgen aber stets dem gleichen Prinzip: Sie produzieren Laute in einem für die Tiere unangenehmen Frequenzbereich - wie ein Marderschreck im Ozean. Neuere Geräte, wie das vom BSH untersuchte und für gut befundene "Fauna Guard", sind zudem konfigurierbar. Sie machen also nicht Krach für alle, sondern wirken artspezifisch und gezielt über einen Radius von bis zu 2,5 Kilometer.
Einige Fische könnten von den Windparks profitieren
Ist damit alles gut? Wenn man Jennifer Dannheim zuhört, bekommt man den Eindruck: Es kommt drauf an. Dannheim, Wissenschaftlerin am Alfred-Wegener-Institut, hat mehr als zehn Jahre ihrer Forschung dem Zusammenwirken von Offshore-Windparks und marinen Ökosystemen gewidmet. Grundsätzlich werde viel dazu geforscht, doch es gebe so viele Facetten des Themas, dass einiges dann eben doch nicht so eindeutig sei. Wissenschaftlich gesichert ist, dass sich Meeressäuger durch die Technik vergrämen lassen, sagt sie. Und, dass die Tiere nach dem Ende der Bauphase auch wieder zurückkommen. "Es geht eben nicht nur um ein Pile, sondern um 80 und mehr. Und das über Monate", sagt sie. Im Vattenfall Park zogen sich die Arbeiten an den Fundamenten fast ein Jahr. Grundsätzlich ist der Ausbau erneuerbarer Energien auf See richtig, findet die Meeresbiologin. Aber nicht ohne Wirtschaft, Behörden, Naturschutzorganisationen und Wissenschaftler immer wieder an einen Tisch zu bringen.
Denn Meeressäuger sind nicht die Einzigen, für die eine Turbine auf See einiges ändert. Dannheim hatte sich in ihrer Forschung vor allem Fischen und den Lebensgemeinschaften des Meeresbodens, dem Benthos, gewidmet. Auch unter ihnen, etwa Krebsen und Muscheln, gibt es geräuschsensible Arten. Zudem sind die Turbinenfundamente nicht der einzige Eingriff. Um Seekabel zu verlegen, wird der schlickige Boden oft durchspült, damit das Kabel durchs Eigengewicht ins Sediment sinken kann. Auch das könnte Gemeinschaften durcheinanderbringen.
Es gibt aber auch Arten, die plötzlich ein passendes Zuhause finden, wo vorher keins war. "In unserer Nordsee gibt es eigentlich nur sandige Untergründe. Mit den Turbinen dringt plötzlich ein hartes Substrat und eine vertikale Struktur in diesen Raum vor", erklärt Dannheim. Das kann eine ganze Reihe von Veränderungen hervorbringen, deren Konsequenzen noch nicht ganz klar sind. Wenn Muscheln die Fundamente besiedeln, bedeutet das, es reichert sich organisches Material um die Turbinen bis auf den Meeresgrund an. Gleichzeitig bezieht ein "riesiger Filter-Apparat" Stellung, wie Dannheim es formuliert. Das müsse nichts Schlechtes sein, aber bedeute in jedem Fall Veränderung.
Könnten Offshore-Windparks damit vielleicht Habitate bilden, um die europäische Auster zurück in die deutsche Nordsee zu bringen oder Hummer anzusiedeln? Solche Ideen gibt es durchaus, auch am Alfred-Wegener-Institut. Viele Arten nehmen künstliche Riffe verschiedenster Bauart gut an, das ist bekannt und etwas, auf das auch Offshore-Betreiber zunehmend setzen. Am Grund des bald größten Windparks der Welt hat Vattenfall Fels aufgeschüttet, um gezielt Fische anzulocken. Und die Konstrukteure haben die schweren Fundamente gleich vierfach gelöchert, nicht ohne sicherzugehen, dass die Stabilität gewährleistet sei, wie man im Konzern versichert. Wasser kann so durch die Hohlräume der Monopiles fließen, durch die auch ein Seehund gleiten könnte. Vor allem aber sollen Fische, etwa junger Kabeljau, Rückzugsmöglichkeiten finden.
Die größte Bearbeitung des Meeresbodens geht, egal wo auf der Welt, noch immer auf das Konto der Fischerei. Auch in Nord- und Ostsee wird mit Baumkurren, speziellen Grundschleppnetzen, gefischt, nach Krabben oder Plattfischen. Jeder Quadratmeter des deutschen Nordseebodens wird so im Schnitt einmal jährlich durchpflügt. Offshore-Parks aber sind für die Fischerei tabu. Die Betreiber bestimmen allein, wer in das Betriebsgebiet fahren darf und wer nicht. Boote mit Schleppnetzen sind schon deshalb nicht erlaubt, weil sie die technische Infrastruktur beschädigen könnten. Die Parks in ihren riesigen und immer gigantischer werdenden Clustern könnten sich so im Nebenjob und langfristig als unverhoffte Schutzzonen erweisen.