Das nächste große Ding: modulare Kernreaktoren

Von modularen Kernreaktoren wird erwartet, dass sie eine zentrale Rolle bei der Energiewende spielen werden, wenn sich die Welt von den fossilen Brennstoffen zur Energieversorgung verabschiedet. Aber wann können sie in Betrieb genommen werden?

Mit der weiteren Integration wetterabhängiger Energieerzeugung in die Energiesysteme müssen wir die Frage der langfristigen, planbaren Grund- und Ersatzstromversorgung dringend angehen, nicht zuletzt wegen der langen Realisierungszeiten solcher alternativen Systeme. Da niemand weiß, welche Technologien ohne fossile Brennstoffe in Zukunft am wettbewerbsfähigsten sein werden, ist es wichtig, alle Türen offen zu halten. Kleine modulare Reaktoren (SMR, small modular reactors) gelten als eine der vielversprechendsten Ergänzungen des Spektrums realistischer Lösungen.

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Was sind kleine modulare Reaktoren?

Bei den SMR handelt es sich im Wesentlichen um kleine Kernkraftwerke mit vereinfachtem Reaktordesign und größerer Flexibilität bei Nachfrageschwankungen. Sie bieten ein breiteres Spektrum an Anwendungen wie die Kraft-Wärme-Kopplung, eine bessere Skalierbarkeit, geringere Auswirkungen auf die Energiesysteme und niedrigere Anlagekosten. Wie große konventionelle Kernkraftwerke haben sie Komponenten wie Reaktor, Kühlsystem, Generator und Transformator, sie werden jedoch als modulare und standardisierte Systeme hergestellt. Es fallen also weniger Bauarbeiten vor Ort an, da die Komponenten zur Baustelle transportiert und dort zusammengebaut werden.

„SMR bieten die Vorteile von standardisierter Qualität und Skaleneffekten, da es keine Sonderanfertigungen sind – SMR sind stattdessen Teil einer Serienproduktion, die auf industriellen Standardkomponenten basiert. Dank technischer Innovationen, Verbesserungen bei der Computermodellierung und moderner Bautechniken sind SMR einfacher konstruiert und benötigen weniger Materialien sowie eine geringere Grundfläche. Das vereinfacht den Bau, den Betrieb und die Wartung der kleinen Kernreaktoren“, erklärt Marcus Eriksson, Senior Advisor für Nuclear Technology bei Vattenfall.

Small Nuclear Reaktor

Leichtwasserreaktoren und fortgeschrittene SMR

Die SMR lassen sich in zwei Typen unterteilen: Leichtwasserreaktoren und fortgeschrittene Reaktoren. Bei einem Leichtwasserreaktor handelt es sich im Grunde um eine kleinere Version bestehender Kernkraftwerke mit gleicher Brennstoffart, die bereits auf dem Markt erhältlich ist. Er erzeugt dieselbe Art von abgebrannten Brennelementen wie die Reaktoren von Vattenfall und die große Mehrheit der Reaktoren weltweit – die Energieversorgungsunternehmen sind also sehr erfahren im Umgang mit diesen Abfällen und bieten ein Höchstmaß an Sicherheit. Die Leichtwasserreaktoren sind für die Erzeugung von Strom und die gleichzeitige Erzeugung von zum Beispiel Wasserstoff und Fernwärme ausgelegt.

„Die sogenannten fortgeschrittenen SMR verwenden andere Kühlmittel wie zum Beispiel Gas, Flüssigmetall oder Salzschmelze. Einige Ausführungen können sogar recycelte Brennstoffe verwenden“, erklärt Martin Darelius, Technical Advisor bei Vattenfall Strategy and Innovation. „Aufgrund der unterschiedlichen Kühlmittel ermöglichen fortgeschrittene SMR eine Hochtemperaturleistung im Bereich von 540 Grad Celsius bis 750 Grad Celsius, die für die Produktion von Wasserstoff viel effizienter genutzt werden kann als herkömmliche alkalische Elektrolyseure. Sie können auch Hochtemperatur-Prozesswärme für die Zement-, Zellstoff-, Chemie- und Stahlindustrie liefern und eröffnen so neue und leistungsstarke Anwendungsbereiche.

Diese Anlagen würden jedoch zusätzliche Infrastrukturen erfordern, einschließlich einer neuen Brennstoffherstellung, Lösungen für die Abfallbehandlung und im Falle der Wiederaufbereitung von Brennstoff auch Wiederaufbereitungsanlagen, die in den meisten Ländern mit Kernkraft derzeit nicht vorhanden sind. Dies gilt insbesondere für Salzschmelzen und Flüssigmetalle.

Sicherheit hat höchste Priorität

Die SMR werden nach denselben Sicherheitsstandards und -maßnahmen betrieben wie konventionelle Kernkraftwerke. Sie sind jedoch eher passiv ausgelegt, benötigen weniger ausfallgefährdete Komponenten und sind weniger auf aktive Komponenten angewiesen, die Strom und bewegliche Teile erfordern und anfälliger für Verschleiß sind. Die SMR stützen sich auch in höherem Maße auf Sicherheitssysteme, die keine externe Energieversorgung benötigen und weniger auf menschliche Interaktion angewiesen sind. So werden menschliche Fehler minimiert und die SMR sind besser vor externen Gefahren geschützt.

Weltweit wachsendes Interesse an der SMR-Technologie

Die Entwicklung der SMR-Technologie erfolgt in großen Nuklearländern wie den USA, dem Vereinigten Königreich, Südkorea, Frankreich, China und Russland, die eine nationale Nachfrage oder potenzielle Exportmöglichkeiten sehen. Auch Länder, die nach Wegen zur Dekarbonisierung ihres Energiesystems suchen, aber nicht in der Lage sind, erneuerbare Energien ohne weiteres zu nutzen, haben Interesse an der Einführung dieser Technologie. Gleichzeitig betrachten die Länder mit bereits vorhandenen Kernkraftwerken die SMR als eine Möglichkeit, alternde Kernkraftwerke zu ersetzen.

Vorreiter bei der SMR-Einführung

Einige Länder, die bereit sind, das kommerzielle Risiko einer ersten SMR-Einführung zu tragen, haben in den letzten Jahren Projekte auf den Weg gebracht. Diese Projekte nehmen derzeit in Kanada, den USA und China Fahrt auf, wobei Kanada Spitzenreiter ist. Das Energieunternehmen Ontario Power Generation und die Provinz Ontario haben eine Vorreiterrolle eingenommen: Die Vorbereitungsarbeiten für den Bau eines SMR laufen bereits und die Planung und die Genehmigungsverfahren für drei weitere SMR haben begonnen. Ontario Power Generation erwartet die Baugenehmigung für den ersten SMR bis Ende 2024, sodass anschließend mit dem Bau des Kernkraftwerks begonnen werden kann.

Die Einführung von SMR wird auch im Vereinigten Königreich, in Polen, der Tschechischen Republik, Estland und Rumänien erwogen sowie in Ländern wie Schweden und Finnland geprüft. Frankreich entwickelt kleine Kernreaktoren für den Export und will bis 2030 einen SMR französischer Bauart zu Demonstrationszwecken in Betrieb nehmen.

Neben der technologischen Entwicklung muss auch der regulatorische Rahmen für Kernkraftwerke entwickelt werden, um Flexibilität bei der Technologie-Auswahl zu ermöglichen und ein effizientes Genehmigungsmodell für neue Reaktorkonzepte zu schaffen – auch über die 2030er-Jahre hinaus. In den meisten Ländern, die aktuell zu den Vorreitern gehören, ist dieses Problem bereits gelöst. Eine Einigung zwischen den verschiedenen Ländern zur Verabschiedung gemeinsamer, standardisierter Lösungen steht allerdings noch aus.

SMR lassen noch etwas auf sich warten

Auch wenn die Technologie und die Funktionsprinzipien für die SMR weitgehend entwickelt sind, bleibt bis zu ihrer Inbetriebnahme noch viel zu tun, erklärt Marcus Eriksson: „Die Errichtung neuer Kernreaktoren in Schweden – ob klein oder groß – wird sowohl für die Ausarbeitung neuer Genehmigungsunterlagen als auch für den Bau Zeit erfordern. Wenn wir zu Beginn der frühen 2030er-Jahre SMR in Betrieb nehmen wollen, sind Leichtwasserreaktoren die logischste Option für Vattenfall, da wir bereits über die gesamte Infrastruktur verfügen und sie sowohl für die Strom- als auch für die Fernwärmeerzeugung genutzt werden können. Da unser Bestand an großen Kernkraftwerken für eine lange Betriebsdauer ausgelegt ist, würden SMR diese Anlagen ergänzen.“

Wie sieht ein kleiner modularer Reaktor aus? Diese drei Visualisierungen wurden vom Architekturbüro Gottlieb Paludan für die Machbarkeitsstudie von Nucelerate West für die potenzielle Konstruktion von SMRs erstellt.

„Nucelerate West“ – Vattenfalls SMR-Machbarkeitsstudie in Ringhals

Vattenfall hat eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben und prüft, ob die kommerziellen, rechtlichen und technologischen Voraussetzungen für den Bau von SMR an Vattenfalls bestehendem Kernkraftwerksstandort in Ringhals an der schwedischen Westküste gegeben sind. Die Studie geht davon aus, dass ein erster Reaktor Anfang oder Mitte der 2030er-Jahre betriebsbereit sein könnte.

„Damit das Projekt Nucelerate West umgesetzt werden kann, müssen einige Bedingungen erfüllt sein“, sagt Henric Lidberg, Senior Advisor und Projektsponsor der Machbarkeitsstudie. „Es muss eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für die SMR geben, sie müssen ohne nationale Anpassungen standardisiert werden, sie müssen die Sicherheitsanforderungen der Behörden erfüllen, es muss vorhersehbare und effiziente Genehmigungsverfahren geben, und die SMR müssen eine finanziell wettbewerbsfähige Alternative zu anderen Energiequellen sein“.

Ringhals wurde aufgrund seiner idealen Lage für den Bau von Kernkraftwerken ausgewählt. In Südschweden besteht ein großer Bedarf an Stromerzeugung, und Ringhals verfügt bereits über in Betrieb befindliche Kernkraftwerke, einen Netzanschluss und langjährige Erfahrungen mit dem Betrieb von Leichtwasserreaktoren. Die Region Ringhals ist auch für die Energieerzeugung von nationalem Interesse und der Standort, an dem neue Reaktoren am schnellsten in Betrieb genommen werden könnten.

Weitere Informationen über die SMR-Machbarkeitsstudie in Ringhals sind unter dem Link SMR-Machbarkeitsstudie in Ringhals (Englisch) abrufbar.

Zusammenarbeit bei SMR-Studie mit estnischem Fermi

Seit dem Frühjahr 2020 beteiligt sich Vattenfall an einer Machbarkeitsstudie des estnischen Start-up-Energieunternehmens Fermi Energia, um die Möglichkeiten für den Einsatz von SMR in Estland zu untersuchen. Vattenfall hat eine Minderheitsbeteiligung an dem estnischen Unternehmen erworben, um gemeinsam Machbarkeitsstudien zu Kosten, Versorgungskette sowie Fähigkeiten zum Bau und Betrieb der SMR-Technologie durchzuführen. Vattenfalls Investition in diese neue Technologie ist durch den Wunsch motiviert, das Unternehmen beim Erfolg des Projekts zu unterstützen und unternehmenseigene Erfahrungen in einem europäischen SMR-Projekt zu sammeln, was dieses estnische Projekt liefern kann. 

„SMR sind Neuland für Energieunternehmen, Politiker und die Gesellschaft. Als Unternehmen wollen wir lernen und uns unternehmenseigene Kompetenzen im Bereich neuer Technologien aneignen, die Teil der Lösung für die Versorgung mit fossilfreier Energie sein könnten, um so die Dekarbonisierung voranzutreiben“, sagt Marcus Eriksson, zuständig für Vattenfalls Zusammenarbeit mit Fermi Energia.

Das Projekt hat das konkrete Ziel, die SMR-Technologie in Estland einzusetzen. Außerdem wird es Erfahrungen und Erkenntnisse über die Lizenzierung dieser Technologie liefern. Der Vertrag zwischen Vattenfall und Fermi Energia läuft mit einer fünfjährigen Laufzeit bis 2026. Zu diesem Zeitpunkt will das Unternehmen einen Grundsatzbeschluss des estnischen Parlaments für den Bau eines SMR beantragen. Der Plan sieht vor, dass der erste SMR im Jahr 2032 in Betrieb genommen wird und bis 2035 weitere Blöcke folgen, wenn das auf Schieferöl basierende Grundlastsystem des Landes ausläuft und durch andere Energiequellen ersetzt werden muss.

 

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